Uwe Schulz

Das Leben ein Bahnhof – Wuppertal und der Tod

Mein frischer Gastbeitrag für die Zeitschrift der Palliativ- und Hospizberatung in Wuppertal, Lebenszeiten. 

„Ich plane meine eigene Beerdigung.“ Das war einer der Sätze, die mich überrascht haben in meinen Gesprächen an der Schwelle des Todes. Der wohl renommierteste Krimikenner Deutschlands hat ihn mir in einem Kölner Hospiz gesagt: Manfred Sarrazin, wenige Wochen vor seinem Tod. Er sollte seinen Willen bekommen. Er war überzeugt, „dass es Aufgabe des Verstorbenen ist, auf dem Friedhof oder in der Kirche ein Unterhaltungsprogramm zu bieten“.

Manfred Sarrazin hatte zu seiner eigenen Beisetzung Literaturzitate ausgewählt und Musik, die gesamte Dramaturgie der Trauerfeier vorgegeben, auch das kleine Szenenbild in der Trauerhalle mit Sessel und Lesetisch, darauf ein Stapel Krimis und ein halbvolles Glas Rotwein. Und alle, die dabei waren, erzählen noch heute, mehr als vier Jahre später, von einem Abschied, der so lebendig war wie der Mann, der nun fehlte.

Das ist für mich das Entscheidende an seinem Satz von der Planung für die eigene Beerdigung: Es geht darin nicht um Selbstinszenierung, nicht um den Zwang, sich als originell und individuell darzustellen. Dieser Abschied war nicht das ultimative Selfie. Es war die letzte freundliche Hinwendung zu seinen Wegbegleitern. Was mich an Sarrazins letztem Willen beeindruckt, ist der Hinweis darin, dass jeder von uns seinen Teil zur Weltgeschichte beiträgt. Dass jedes Leben eine unverwechselbare Gestalt trägt. Beisetzung bedeutet auch, sich dieser Gestalt bewusst zu werden, des Wesentlichen eines Menschen.

Als Dozent stelle ich jungen Journalisten am Anfang ihres Berufswegs manchmal die Frage: „Was würde der Welt fehlen, wenn es dich nicht gäbe?“ 20- bis 30Jährige Männer und Frauen der sogenannten Generationen Y und Z finden darauf anscheinend leichter ihre individuellen Antworten. Viele sind mit der Botschaft groß geworden, etwas „ganz Besonderes“ zu sein, und suchen deshalb geradezu neurotisch in jedem Lebensbereich Bestätigung dafür. Sie suchen ständig den Vergleich, den Wettbewerb, als müssten sie andere an Brillanz und Originalität übertreffen. In meinen Augen ein fruchtloses, ein frustrierendes Missverständnis unserer Einzigartigkeit. Wenn wir das Leben begreifen als Geschenk an die Welt – unser Leben wie das jedes anderen, können wir es stolz und demütig zugleich annehmen und schließlich auch wieder aus der Hand geben.

Die Herausgeber der Lebenszeiten haben sich in diesem Beitrag einen Bezug zu Wuppertal gewünscht. Also versuche ich, meinen Gedanken in ein regionales Gleichnis zu fassen: Wie Züge, die in den Wuppertaler Hauptbahnhof ein- und ausfahren, begegnen uns Menschen; sie kommen und gehen. Ohne großes Aufheben werden im Bahnhof Weichen gestellt; so, wie in manchen guten Begegnungen auch unauffällig Richtungsentscheidungen fallen. Eines Tages ist dieser Bahnhof abgeschnitten vom lebhaften Hin und Her; kein Kommen, kein Gehen. Stillstand. So wie wir es hier im Sommer erlebt haben. Und doch blieb der Bahnhof ein Bahnhof. Nicht besonders schön, nicht beeindruckend. Ein Bahnhof von mehr als 5600 in Deutschland, die den Zügen Ziel oder Richtung geben. Wie wichtig er ist, fiel erst auf, als er ausfiel. So ähnlich ist meine Vorstellung vom Leben. Ich werde daran denken, wenn ich an Gleis 1 auf RB 48 warte.

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